Sind Sozialarbeitende alle politisch? Diese Vorstellung ist falsch – aber nicht verkehrt. 

Soziale Arbeit und Sozialpolitik sind eng miteinander ver­bunden. Denn der Auftrag der Sozialarbeit wird durch die Politik definiert. Zudem steuert die Politik die finanzielle Ausstattung und die Rahmenbedingungen. Doch ist daraus zu schliessen, dass Sozialarbeitende per se politisch denken, politisch handeln und gesellschaftliche Veränderungen an­ streben? Sind Sozialarbeiter_innen generell links und nett? Oder sind sie heutzutage nicht einfach gut ausgebildete Aka­demiker_innen, die ihre Aufgabe professionell angehen und ihre Klient_innen individuell beraten und unterstützen?

Individuelle Probleme haben strukturelle Ursachen

Klar ist, soziale Arbeit befähigt auch zu politischer Arbeit. Diese Ausbildung ist eine gute Voraussetzung, um poli­tisch aktiv zu werden. Man trifft auf Sachverhalte, die auf­rütteln, und auf gesellschaftspolitische Fragestellungen. Man begegnet Problemen und sozialen Ungerechtigkeiten. Dazu kommen Kommunikationsstärke und Empathie, die viele Sozialarbeitende auszeichnen. Doch das alleine führt nicht dazu, dass Sozialarbeitende politischer sind als andere Menschen. Was für mich gilt, kann nicht automatisch übertragen werden. Für mich war es immer klar, nebst der individuellen Unterstützung, die ich als Sozialarbeiterin leiste, will ich auch die Rahmenbedingungen politisch verändern. Denn die Problemstellungen der Klient_innen ha­ben zum Teil auch strukturelle Ursachen. Das war eine der Motivationen, mich aktiv in der institutionellen Politik zu engagieren. Mit dieser Haltung bin ich nicht alleine, gibt es doch zahlreiche Sozialarbeitende, die den Weg der Politik beschritten haben, oder berufspolitisch aktiv sind. Viele der mir bekannten politisch aktiven Sozialarbeitenden stehen politisch links. Eine meiner Gesprächspartnerin­nen sagte mir ganz klar, für sie sei es gar nicht anders denkbar, weil man ja mit sozialen Missständen konfron­tiert werde. Doch ich erlebte und erlebe bis heute auch völ­lig unpolitische Sozialarbeitende. Oder solche, die politisch am rechten Rand anzusiedeln sind.

Professionalisierung durch Engagement

Soziale Arbeit hat sich in den letzten 30 Jahren stark entwickelt, hat ihren festen Platz und ist insgesamt professio­neller geworden. Das ist von grosser Bedeutung und sehr wichtig. Doch hat das meines Erachtens einen Preis. Ich habe viele Pionierprojekte kennengelernt, selber beim Aufbau professioneller Strukturen und Angebote mitge­arbeitet. Ich habe beruflich wie politisch für die Finanzie­rung sozialer Angebote gekämpft. Im Aufbau vieler Ange­bote in der stationären und ambulanten Hilfe waren poli­tische Kräfte nötig. Diese Pionierprojekte erforderten ein grosses, zusätzliches Engagement und politisierten die daran beteiligten AkteurInnen.

Diskussionen über die Art der Angebote und deren Entwicklung waren stark präsent. So habe ich es auch in der Ausbildung erlebt. Eine gewisse Politisierung ging mit der fachlichen Ausbildung einher. Es gab einen ständigen Kampf um die Finanzen, aber auch um die Ausrichtung. Grosse Auseinandersetzungen, etwa um die stationäre Jugendarbeit, geschlossene Einrichtun­gen, die Drogenpolitik – aber auch um den Aufbau der Frauenhäuser. Die Sozialarbeit als Profession erkämpfte sich ihre Akzeptanz. Die Pionierprojekte entwickelten sich zu anerkannten professionellen Angeboten. Der politische Kampf dafür trat in den Hintergrund. Auch die sozialen Probleme traten damit teilweise in den Hintergrund, sind nicht mehr immer so offensichtlich. Damit hat sich auch das Bild der Sozialen Arbeit und der Sozialarbeitenden et­was gewandelt. Die Professionalität ist in den Vordergrund gerückt, die Politisierung wird weniger erlebt und wahrgenommen.

Mehr Profession dank weniger Politik?

Ich stelle fest, dass die Sozialarbeitenden ihre Aufgabe heute stärker als Beruf wahrnehmen und weniger als Be­rufung. In der Fachliteratur findet sich die Auffassung, es sei wichtig, dass die Politisierung in den Hintergrund rü­cke und auch in der Ausbildung möglichst wenig Raum einnehme. Die Soziale Arbeit müsse – gewissermassen – neutral sein. Doch stelle ich andererseits auch fest, dass an den Fachhochschulen auf eine Sensibilisierung der Studierenden hingearbeitet wird. Denn gerade der Kampf um die Finanzen, der politische Druck von Rechts auf die Soziale Arbeit erfordern dies ja geradezu. Es scheint aber durch­wegs von den Dozierenden abzuhängen, wie stark das ein­ gebracht wird.

Es fand also ganz klar eine Entpolitisierung der Sozialar­beitenden statt. Das bestätigen mir auch meine Gesprächs­partner_innen aus dem Feld der Sozialarbeit. Zu tun hat das meines Erachtens mit der Etablierung des Berufsfeldes und damit, dass in der Vergangenheit sehr viel erreicht wurde. Der Kampf für diese Errungenschaften ist heute nicht mehr direkt sichtbar. Als weiteren Aspekt sehe ich die Tatsache, dass die Fachhochschulen die Ausbildung massiv ausgebaut haben. Es werden heute sehr viel mehr Studierende ausgebildet, und es bleibt weniger Zeit für die einzelnen Studierenden. Gleichzeitig sind die Studieren­den heute jünger. Und die Jüngeren seien viel weniger politisch interessiert, höre ich in den Gesprächen. Sich als Sozi­alarbeitende nicht einzumischen, ist eine weitverbreitete Haltung. Zum Teil sei es aber auch Bequemlichkeit, sich nebst der anspruchsvollen Arbeit mit vielen komplexen Fällen nicht auch noch politisch auseinandersetzen zu wollen. Für mich ist dies beinahe paradox. Der Druck von SVP und Co. auf die Soziale Arbeit und die dadurch ausge­löste Deprofessionalisierung verstärken die Depolitisie­rung der Sozialen Arbeit. Statt sich dagegen aufzulehnen, zieht man sich zurück. Viele sind am Anschlag, weil man zu wenig Ressourcen hat. Es ist äusserst bedauerlich, dass der permanente Druck diese Auswirkungen hat und der Grundauftrag der Sozialen Arbeit, die Verpflichtung zur sozialen Gerechtigkeit, in den Hintergrund rückt. Gerade in der gesetzlichen Sozialarbeit erlebe ich auch eine gewisse Härte. Man ist Kontrollinstrumenten gegenüber of­fen, Sanktionen erscheinen als Erleichterung. Für eine echte diesbezügliche Auseinandersetzung fehlt im Berufs­alltag oft die Zeit. Ob Sozialarbeitende deswegen nach rechts driften oder ob es eine Überforderung ist, ist schwer zu beurteilen. Beides mag wohl zutreffen. Für mich gehört ein gewisses Mass an politischer Einflussnahme zur So­zialarbeit. Weil Sozialarbeitende die Probleme der Menschen aus nächster Nähe kennen, sollten sie sich einbringen. Ich möchte ihnen Mut machen, dies auch zu tun.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in SozialAktuell Nr. 4_April 2018