Mit der Mindestlohninitiative will man erstmals schweizweit eine Lohnuntergrenze festlegen. Das ist bitternötig, denn verschiedene Branchen zahlen heute Tieflöhne, die kaum zum Leben reichen. Die Lohnstrukturerhebung 2012, die Ende April veröffentlicht wurde, zeigt, dass die Lohnschere in den letzten zwei Jahren weiter aufgegangen ist und die tiefsten 10 Prozent der Löhne sogar weiter gesunken sind – um 286 Franken pro Jahr. Die höchsten 10 Prozent der Löhne sind in diesen zwei Jahren aber um 9901 Franken pro Jahr gestiegen! Diese Entwicklung ist schlecht für den Zusammenhalt in unserem Land.
Bauernpräsident Markus Ritter kritisiert die Mindestlohninitiative, weil sie keine regionalen und branchenspezifischen Unterschiede mache. Doch er hat unsere Initiative schlecht gelesen. Denn in Absatz 2 steht klipp und klar, Bund und Kantone sollten in Gesamtarbeitsverträgen orts-, berufs- und branchenübliche Mindestlöhne fördern.
Gleichzeitig meint Markus Ritter, ein Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde sei zu hoch. Als Beispiel nennt er seinen Betriebshelfer. Dieser käme dann auf einen Lohn, den er gar nicht bräuchte. Da er ja günstig bei ihm auf dem Hof eine Wohnung mieten könne und verpflegt werde. Für Kost und Logis werden dem Mitarbeiter jedoch rund ein Drittel des Lohn abgezogen. In seiner Rechnung lässt Markus Ritter unerwähnt, dass sein Mitarbeiter während 55 Stunden pro Woche bei Wind und Wetter harte Arbeit verrichtet und mit dieser ausserordentlich langen Wochenarbeitszeit fast gezwungen ist, auf dem abgelegenen Hof zu leben. Hier vernimmt man die Stimme eines Patrons, der zu wissen scheint, was für seinen Mitarbeiter gut ist. Das ist – gelinde gesagt – eine sehr bevormundende Haltung. Sein Mitarbeiter hat kaum Freizeit, vom Besuch eines Sprachkurses oder aktiver Integration in unsere Gesellschaft ganz zu schweigen.
Markus Ritter verlässt er sich darauf, auch in Zukunft Billigarbeitskräfte aus dem Ausland zu holen, statt sich für rechte Löhne in der Landwirtschaft einzusetzen.
Mit dieser bevormundenden Haltung Angestellten gegenüber ist der Bauernpräsident bei weitem nicht alleine. Der Direktor der IHK St. Gallen, Kurt Weigelt, argumentiert, es handle sich sowieso meist um Zweitverdiener, die nicht auf so ein hohes Einkommen angewiesen seien. Meinen tut er damit die Frauen, was zeigt, dass er ein völlig veraltetes Familienbild hat. Mit solch arroganten Argumenten verdreht man die prekäre Situationen der Menschen, die zu tiefsten Löhnen harte, anstrengende Arbeiten verrichten und mit ihrem Lohn kaum über die Runden kommen. Denken Sie daran, dass von den 330’000 Menschen mit Löhnen unter 4000 Franken rund 70 Prozent über eine abgeschlossene Ausbildung verfügen und über 25 Jahre alt sind. Sie alle haben ein Anrecht darauf, anständig leben zu können.
Dieser Text ist am 4. Mai 2014 als Gastkommentar in der Ostschweiz am Sonntag erschienen. Als Reaktion auf den Gastkommentar von Markus Ritter vom 20. April 2014